Volontärstätigkeit in den Smokey Mountain

Die Nothelfergemeinschaft der Freunde e.V. kenne ich bereits seit vielen Jahren. Das erste Mal war ich 1994 in einem Projekt der Nothelfer in Kroatien als Freiwilliger dabei, das zweite Mal dann bei einem längeren Einsatz in Kfar Tikvah / Israel im Jahre 1995.
Wahrend meines Studiums habe ich mich dann besonders für Asien interessiert und die Region auch mehrfach bereist. Nach einem Gastaufenthalt an der Silliman University in Dumaguete City / Philippinen, im Jahr 2001 stieg mein Interesse an diesem Land.
Als ich dann erfuhr, dass die NdF auch ein Projekt in Manila anbietet, habe ich mich beworben - und so landete ich im Oktober 2003 wieder einmal in Manila.
Die Stadt ist ein typischer Dritte-Welt-Moloch, ausufernd, überfüllt, voller Abgase, chaotisch, laut und überaus respekteinflössend für den Neuankömmling. Zunächst nahm ich Kontakt auf mit Luming Woelhaf, der Leiterin der Schule Mithing Pangharap. Frau Woelhaf ist eine Geschäftsfrau, die in Manila zwei Schulen, darunter das Philippine Montessori Center, die älteste Montessori-Schule auf den Philippinen, leitet. Dies ist eine exklusive Privatschule für die Kinder wohlhabender Ausländer und Filipinos, von einflussreichen Politikern und reichen Geschäftsleuten. Dort werden die Kinder meist vom eigenen Fahrer zur Schule gebracht, manche haben sogar Leibwächter dabei.
Das soziale Umfeld des Montessori-Center ist gut geeignet, die Situation auf den Philippinen zu verstehen, wenn man dann das zweite Projekt von Frau Woelhaf kennen lernt: Die Educational Foundation am Smokey Mountain, das Projekt, in dem ich nun arbeiten sollte. Hier lernt man eine Gegenwelt kennen, die Welt, die für die Philippinen eher typisch ist als die sterile Welt der Montessori-Kinder mit ihren Bodyguards und Kindermädchen.
Mithing Pangharap liegt am Smokey Mountain, dem berühmten „Rauchenden Berg", der mittlerweile auch außerhalb Asiens traurige Medienberühmtheit erlangt hat. Es handelt sich dabei um eine der großen Müllhalden Manilas, die ständig wächst und weiter raucht. Der Rauch kommt durch den Druck, die Hitze und die chemischen Gärungsprozesse im Inneren des gigantischen Müllberges zustande. Das Besondere an dieser Halde ist jedoch, dass sie für Tausende von Menschen Lebensraum und Einkommensquelle darstellt. Am und direkt auf dem Müll gibt es Hüttenkolonien, in denen die Menschen wohnen. Sogar einen kleinen Laden gibt es dort, und die meisten Menschen -- auch Kinder - „arbeiten" als Müllsucher. Sie suchen nach Abfällen, die sie dann an die Betreiber der „Junk Shops" verkaufen, die das Material an größere Unternehmen weiterverkaufen.

Die philippinische Regierung hat vor 8 Jahren direkt neben dem Müllberg Baracken errichtet, in denen die erste Generation der Bewohner bis vor Kurzem wohnte. Dort hatte jede Familie einen kleinen Raum, mit Gemeinschaftstoiletten. Die Filipinos, mit ihrem Sinn für schwarzen Humor, nennen diese Siedlung „Aroma", wegen dem oft scharfen Gestank des nahen Mülls, der an den meisten Tagen über den Häusern liegt. Zwischen den Baracken findet das meiste Leben statt, dort spielen Kinder, sitzen Männer beim Kartenspielen oder Frauen beim Wäschewaschen. Überall liegt Müll und überall steht verdrecktes Wasser, durch das die Menschen teils barfuss laufen. Einen Markt gibt es auch.
In einer der Baracken befindet sich die Mithing Pangharap Educational Foundation. Dort gibt es eine kleine Schule, in der die Kinder und Jugendlichen aus den umliegenden Gegenden, die aus armen Familien stammen, ein Bildungsangebot erhalten, dass ihnen ermöglicht, möglicherweise wieder in die reguläre staatliche Schule zu gehen. Die meisten der jungen Menschen am Smokey Mountain haben keine bzw. Nur unzureichende Schulbildung, da ihre Eltern meist nicht das Geld oder auch nicht das Interesse haben, ihren Kindern den Schulbesuch zu ermöglichen. Viele der Familien dort sind unter den harten Lebensbedingungen zerbrochen, die Eltern leben nicht mehr gemeinsam oder der Vater verbringt den Tag beim Glücksspiel, während die Mutter ein Kind nach dem nächsten bekommt.
Um auf die staatliche Schule zu kommen, müssen die Kinder eine bestimmte Prüfung ablegen. Etwas komisch, denn eigentlich sollten sie ja an der Schule was lernen und nicht erst nach Abschluss einer Prüfung aufgenommen werden. Auf diese Prüfung bereitet Mithing Pangharap die Schüler vor. Da sind vier Lehrer, die unter erschwerten Bedingungen unter größtem persönlichen Einsatz versuchen, den Schülern nicht nur etwas beizubringen, sondern sie auch generell vor der „Slum-Kultur" zu bewahren.
Einige der Familien, aus denen unsere Schüler kamen, habe ich besuchen können. Die Mütter sind meist krank und schwach, und so müssen sich die größeren Geschwister um die kleineren kümmern. Einige der Kinder werden dann zum Müllsuchen geschickt, damit die Familie die notwendigsten Dinge kaufen kann. Das Einkommen von bis zu 200 Pesos (etwa 3 Euro) am Tag ist dann hoch genug, um die Kinder nicht in die Schule zu schicken. Das häufige Fehlen der Schüler führte nicht nur bei mir, sondern auch bei den anderen Lehrern zu Frustration.
Vor meinem Einsatz wurde ich von Lehrer Jojo einmal zur Schule geführt, besonders um mir den Weg zu zeigen, auf dem ich mit dem Jeepney die Schule erreichen kann. Manila ist eine sehr große und für den Neuling verwirrende Metropole, also galt es, die Anfahrt genau im Kopf zu behalten. In den kommenden Monaten sollte mir das gelingen, zumal ich mir eine Unterkunft suchte, die nicht allzu weit entfernt vom Smokey Mountain war.
Am ersten Tag stellten mich die Lehrer zuerst vor die Grundschulklasse (Elementary School), in der die 5- bis 12jaehrigen Schüler waren. Ich hatte mir ausgedacht, erst mal das Englisch der Schüler auszuloten, musste aber enttäuscht feststellen, dass Englischkenntnisse fast nicht vorhanden waren. Also habe ich in den kommenden Wochen in der Elementary School zwei Dinge unterrichtet: Englisch und Zeichnen.
Die Elementary fand immer morgens statt, und so begann mein Tag immer mit einem Bild, das alle gemalt haben. Dazu habe ich immer eine Vorgabe an der Tafel geliefert, auf die ich dann auch englische Bezeichnungen der gemalten Gegenstände geschrieben habe. Ich glaubte zunächst, dass ich nach einiger Zeit keine Themen mehr finden würde, aber ich habe einfach auf dem morgendlichen Weg zur Schule die Augen aufgehalten und nach Motiven geschaut. Die Kinder haben dann schon auf die Zeichenstunde gewartet und fanden das Malen sehr gut.
Im Anschluss daran habe ich Englisch-Unterricht gegeben. Dabei muss angemerkt werden, dass ich am Anfang versucht habe, die Kinder in zwei Gruppen einzuteilen, da die Kleineren oft noch nicht reif für Englisch-Unterricht waren. Während ich den Größeren dann einfaches Englisch unterrichtet habe, hat Lehrer Jojo den anderen das Alphabet erklärt. Im Allgemeinen waren die Schüler mehr diszipliniert, was wohl auch daran liegen dürfte, dass die meisten von ihnen Ausländer bisher nur aus dem Fernsehen kannten. Einfache Übungen habe ich genauso durchgeführt wie Vorlesen aus Bilderbüchern, die einen einfachen Begleittext hatten.
Zum Mittag ging es meistens mit Lehrer Jojo in die einfache Kantine, die von der National Housing Authority, die im gleichen Gebäude ihre Büros hatte, betrieben wurde. Hier war das Essen einfach und preiswert.
Am Nachmittag kamen dann die älteren Schüler der High School (etwa Hauptschule). Diese Schüler waren zwischen 12 und 18 Jahre alt, aber es gab auch vereinzelt welche, die jenseits der 20 waren, aber noch keinen Highschool-Abschluss hatten. Oft wurden sie von Freunden oder Nachbarn mitgenommen, die ihnen von der Schule erzählt hatten. Wie in der Elementary School gab es auch hier eine große Fluktuation, während etwa die Hälfte der Schüler regelmäßig erschienen. Als zusätzlichen Anreiz (von Menschen in diesem Umfeld kann man eher selten langfristiges Denken erwarten), um die Schule für die Schüler interessant zu machen, hat Frau Woelhaf ein tägliches Mittagessen angeboten. Dabei haben die Schüler und Lehrer gemeinsam gekocht.
Auch bei den älteren Schülern habe ich zunächst das vorhandene Wissen getestet, da ich überhaupt nicht wusste, wo ich ansetzen konnte. Einen Lehrplan gab es nicht für mich, ich war in den Lerninhalten völlig frei. Das war natürlich sehr gut, aber auch eine Herausforderung.
So habe ich dann Fragebögen verteilt, auf denen ich einfache Fragen gestellt habe, die die Schüler anonym beantworten sollten. Dazu gehörten u.a.: Wer war Jose Rizal? Gegen wen haben die Philippinen im Zweiten Weltkrieg gekämpft? Welches sind die drei großen Inseln der Philippinen? Wie heißt die Präsidentin? Aus den Antworten konnte ich dann einen Rückschluss sowohl auf die vorhandenen Englischkenntnisse als auch auf meinen zweiten Plan schließen, eine Art Sozialkunde-Unterricht vorzunehmen.
Wieder haben wir die Schüler in zwei Gruppen eingeteilt, in die mehr (A) und die weniger Fortgeschrittenen (B). Für die B-Gruppe habe ich dann einfachere Englisch-übungen vorgenommen, für die A-Gruppe höheres Englisch sowie eine Art Sozialkunde. Die jeweils andere Gruppe wurde dann parallel von den Lehrern Jojo oder Angie unterrichtet, so dass wir keine Zeit verloren haben.
Da ich der Auffassung bin, dass man die Zustände in marginalisierten und verarmten Gemeinden in der Dritten Welt am ehesten durch Beeinflussung von Mentalitäten und Lebenseinstellungen verändern kann, fand ich es wichtig, wenigstens den älteren Schülern ein wenig Problembewusstsein zu vermitteln. Ich habe mir darum einige philippinische Bücher über soziale Probleme und Geschichte des Landes gekauft, aus denen ich Unterrichtsstunden gemacht habe, die am ehesten zur Bezeichnung „Sozialkunde" passen. Dabei haben wir über soziale Probleme und ihre Hintergründe gesprochen, aber auch über Unterschiede zwischen Philippinen und Deutschland, über die Geschichte des Smokey Mountain und über die politische Situation in den Philippinen. Ich habe dabei vor allem die Schüler zu Wort kommen lassen.
Die Schüler waren in diesen Stunden sehr aktiv, haben sehr gut mitgearbeitet und reges Interesse an den behandelten Themen gezeigt. Einmal habe ich sie einen kurzen Text verfassen lassen, in dem sie die Gründe beschreiben sollten, warum ihre Familien in die Stadt gekommen sind. In der nächsten Stunde haben wir darüber diskutiert.
Vor allem in der Gruppe A der Highschool Schüler gab es diejenigen, die Erfolge beim Bestehen der Aufnahmeprüfung in die reguläre staatliche Schule hatten. Problematisch war allerdings auch hier, dass viele Schüler unregelmäßig am Unterricht teilgenommen hatten bzw. nach einiger Zeit die Initiative verloren hatten. Bei Lehrstellen, die Mithing Pangharap an einige der Schüler vermittelt hat, war der Erfolg auch eher gering. Die Jugendlichen sind bald nicht mehr zur Arbeit erschienen mit dem Hinweis, dass die Anfahrt so lang wäre oder dass die Arbeit so schwer sei. Diese Erfahrungen zeigen, dass vor allem bei der Bildung und besonders bei der Mentalitätsausprägung angesetzt werden sollte. Die „Slum-Kultur", in der viele Kinder und Jugendliche groß werden, stellt in dieser Hinsicht eine Last für das spätere Leben dar, da sie den Kindern Verantwortungsbewusstsein und langfristige Lebensplanung nicht beibringen kann. Die Eltern stellen dabei auch kein Vorbild dar;
Lernen ist i.d.R. nicht der Wert, dem in jeder Erziehung ein hoher Stellenwert beigemessen wird.
Die älteren Schüler haben im Gegensatz zu den jüngeren nur selten auf dem Müllberg als Müllsucher gearbeitet. Als Grund für ihre Abwesenheit in der Schule kann eher Frustration und Enttäuschung gesehen werden, wenn sich der Erfolg des Lernens nicht sofort als spürbare (materielle) Verbesserung gezeigt hat.

 
Jens Kayser, Oktober 2003 bis März 2004

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Stand 2012